Der Begriff Industriekultur, wie wir Ihn heute kennen und nutzen, ist eigentlich relativ jung. Schlägt man einen Brockhaus aus dem Jahr 1970 auf, sucht man den Begriff Industriekultur darin vergebens, obwohl die Idee hinter dem Begriff schon wesentlich älter ist, wie ein Zitat des Denkmalschützers Hermann Keuth aus dem Jahr 1924 zeigt:
Türme aus Stahl und Eisen, nach den Gesetzen des Ingenieurs errichtet, reinste Zweckbauten, formen sich zu überwältigenden Kunstwerken der Architektur. Unsere Augen fangen langsam an, die großartige Schönheit dieser Schöpfungen zu sehen, Empfindung für sie zu bekommen. Wenn Kunst Zeitausdruck sein kann, sind unsere Industriebauten die stärksten Zeugen heutiger Kunst.
Industrielle Anlagen und Gebäude werden also nicht nur unter dem Gesichtspunkt ihrer eigentlichen Zweckmäßigkeit betrachtet, sondern erfahren auch eine ästhetische Wertschätzung und das zu einer Zeit als viele der heutigen Industriedenkmäler noch in Betrieb waren. Das ist es, was den Begriff Industriekultur ausmacht: Industrielle Bauten erfahren einen Bedeutungswandel. Man betrachtet sie in einem erweiterten Zusammenhang, einerseits als Zeugnisse der Arbeiter- und Arbeitskultur, andererseits als architektonische Landmarken, die nachhaltig prägende Epochen einer bestimmten Region symbolisieren.
Industriekultur heute
„Der Begriff „Industriekultur“ steht bis heute für die Beschäftigung mit der gesamten Kulturgeschichte des Industriezeitalters. Er verbindet Technik-, Kultur- und Sozialgeschichte und er umfasst das Leben aller Menschen in der Industriegesellschaft – ihren Alltag, ihre Lebens- und Arbeitsbedingungen.“, so der Historiker Helmuth Albrecht.
Was sehr theoretisch klingt, ist eigentlich für jeden Saarländer im Alltag erfahrbar. Bewegt man sich durch unser schönes Bundesland, kann man diese Landmarken deutlich und oft schon von Weitem sehen: die Schlackenhalde der Grube Duhamel mit dem Saarpolygon, die Gichtgasrohre der Völklinger Hütte, die beleuchtet in den Nachhimmel ragen oder der Hammerkopfturm der Grube Camphausen. Das sind alles Zeugnisse der einst florierenden Montanindustrie an der Saar. Aber nicht nur das, diese Hinterlassenschaften der Schwerindustrie sind viel mehr. Sie sind Symbole, die auf einzigartige Weise Technik-, Wirtschafts-, Regional-, Architektur- und Zeitgeschichte miteinander verbinden.
Hammerkopfturm am Schacht IV der Grube Camphausen
Quelle: Wikimedia
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Industrial archeology
Von produzierenden Betrieben bis zur Anerkennung als Kulturdenkmäler war es allerdings ein langer Weg für die alten Industrieanlagen, die nicht selten nur knapp der Abrissbirne entkamen. Der Grundstein für Industriekultur als ernstzunehmende, wissenschaftliche Disziplin wurde mit der sog. „industrial archaeology“ im Großbritannien der 1950er Jahre gelegt. Großbritannien war somit nicht nur Vorreiter der Industrialisierung im 19. Jahrhundert, sondern auch Vordenker was die Inwertsetzung der Zeugnisse dieser Zeit angeht. 1959 wurde die „iron bridge“ in Shropshire, die erste gusseiserne Brücke der Welt aus dem Jahre 1779 zum Denkmal erklärt. Diese berühmte Brücke wurde 1986 schließlich auch das erste Industriedenkmal, welches die UNESCO als Weltkulturerbe anerkannte.
The Iron Bridge – Die erste gusseisernde Brücke der Welt in Shropshire, UK
Quelle: Wikimedia
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Langsam aber stetig schwappten die Ideen der Industriedenkmalpflege über den Ärmelkanal auch nach Deutschland, wo sie vor allem im Nordrhein-Westfalen der 1970er Jahre Fuß fassen konnten, einem Bundesland, welches sich bereits mitten in einem Prozess des Strukturwandels befand. Die Arbeitswelt begann sich ebenso zu verändern, wie die sozialen Strukturen. Bis 1970 waren die Hälfte aller Erwerbstätigen im industriellen Sektor beschäftigt, um die Jahrtausendwende gerade noch ein Drittel. Jeder vierte, erwerbstätige Saarländer arbeitete im Jahr 1970 in der Montanindustrie, 2010 waren nur noch 6% der saarländischen Erwerbstätigen in diesem Sektor beschäftigt. Viele Industriebetriebe änderten ihre Produktionsweisen oder schlossen und damit stellte sich vermehrt die Frage nach dem Umgang mit dem industriellen Erbe, vor allem in Nordrhein-Westfalen und dem Saarland, zwei Bundesländer, die ganz ähnliche Entwicklungen durchliefen.
Glücklicherweise fielen nicht alle heutigen Industriedenkmäler der Abrissbirne zum Opfer. Bürgerinitiativen setzten sich für den Erhalt ein, die Denkmalgesetzgebung nahmen Industriedenkmäler in den Kanon der zu schützenden Objekte auf.
Aber dennoch stellt sich für viele die Frage, was soll nun mit diesen Denkmälern geschehen, wie können wir diese erhalten, zugänglich oder auch nutzbar machen Sollen es reine Museen sein oder darf man diese auch alternativ nutzen, z.B. für Festivals, Konzerte und Ausstellungen?
Das sind die Fragen, vor welche uns das industrielle Erbe stellt und im Saarland finden wir bereits viele aufregende Antworten, sei es das Erlebnisbergwerk Velsen, die Völklinger Hütte oder der Erlebnisort Reden.
Auch jenseits dieser bekannten Landmarken saarländischer Industriekultur gibt es einiges zu entdecken, in einem Bundesland dessen Geschichte untrennbar mit Kohle und Stahl verbunden ist.
Über den Autor
Oliver Kleinbauer
Unser Projektleiter Oli ist Diplom-Kulturwissenschaftler und hat sich eingehend mit dem Thema Industriekultur auseinandergesetzt, unter anderem durch seine mittlerweile 10-jährige Tätigkeit als Besucherbegleiter im Weltkulturerbe Völklinger Hütte. Außerdem moderiert er regelmäßig das Pub Quiz in der Baker Street und verachtet Rosinen in Backwaren.